In die Erschütterung über die Ereignisse an der Realschule in Winnenden mischt sich schnell die Frage, was die Ursachen für eine solch brutale und gefühllose Metzelei durch einen Jugendlichen sein können. Motivsuche und die Ursachenforschung sind wichtig, denn nur so können die richtigen Konsequenzen gezogen werden, die vielleicht helfen, ein weiteres ähnliches Blutbad zu verhindern. Das Deutsche Kinderhilfswerk warnt hier jedoch vor Schnellschüssen. „Wer reflexartig Computerspielsucht oder Waffenvernarrtheit als Ursache für solche Gräueltaten anprangert, verhindert die notwendige Suche nach den komplexen Störungen und Motiven, die einem solchen Verbrechen vorausgehen“, so Joachim v. Gottberg, Vizepräsident des Deutschen Kinderhilfswerkes.
Jugendliche Amokläufer, die oft ihre gegenwärtige oder ehemalige Schule als Tatort wählen, kommen seit dem Massaker in Littleton Ende der 1990er Jahre auch in Deutschland sehr selten, aber in Abständen von einigen Jahren immer wieder vor. „Wichtig ist es, nach den Gemeinsamkeiten und den Differenzen zwischen den Tätern zu suchen, um die Motivkette zu verstehen, die letztlich zur Tat führt“, erklärt Gottberg. „Dabei können bestimmte Risikofaktoren bei vielen jungen Menschen vorhanden sein, aber nur ganz wenige werden zu Amokläufern. Je besser wir die Ursachen verstehen, desto eher können wir Risiken erkennen und präventiv arbeiten“, so Gottberg weiter.
Auffallend ist, dass sich zwischen Robert Steinhäuser (Erfurt), Sebastian B. (Emsdetten) und Tim Kretschmer große Ähnlichkeiten in ihrer Persönlichkeitsstruktur erkennen lassen. Sie alle waren unauffällige Einzelgänger, die nach Freunden und nach Anerkennung suchten, diese aber nicht fanden. Stattdessen wurden sie immer wieder abgelehnt. So entwickelte sich eine Mischung aus Ohnmacht und Größenwahn. Macht über andere und die Akzeptanz durch Gleichaltrige können diese Jugendlichen aber nicht durch Kommunikation und Überzeugungskraft erreichen, sondern sie benutzen Hilfsmittel wie zum Beispiel Waffen, die persönliche Schwächen ersetzen und vermeintlichen Respekt verschaffen sollen. Je stärker die soziale Isolation, desto mehr lebt der Jugendliche in der fiktionalen Welt der Gewaltfantasien, die er in der simulierten Gewalt von Computerspielen erlebt. Die Spiele bringen Erfolg, Respekt und Machtgefühle, und weil dieses Erlebnis immer wieder gesucht wird, dominiert bald das Spiel als Sinngebung über die Realität. Die Isolation wächst, da sich die Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten immer mehr reduzieren, gleichzeitig wächst dadurch die Attraktivität der Spiele.
Dieser Teufelskreis, der vom familiären Umfeld als sozialer Rückzug in die Computerspiele und als kommunikative Verweigerung wahrgenommen wird, dürfte vielen Eltern bekannt vorkommen. Oft ändert sich das schlagartig durch die erste Freundin, die Ausbildung oder den Beruf. Bei den bisherigen Amokläufern hat sich aber zusätzlich zum sozialen Rückzug im Stillen ein Bedürfnis nach Rache für die eigene Verzweiflung entwickelt, verbunden mit dem starken Wunsch, es einmal allen zu zeigen und sich durch eine Schreckenstat ein Denkmal zu setzen. Vermutlich sind auch suizidale Tendenzen eine wichtige Voraussetzung für einen Amoklauf. Allerdings wird dieser Selbstmord inszeniert, indem er öffentlich stattfindet und indem andere Menschen mit in den Tod genommen werden. Je mehr Menschen das sind, so die grausige Überlegung, desto tiefer wird sich der eigene Name im kollektiven Gedächtnis festsetzen. Für viele Selbstmörder ist der Tod nicht das Ende, sondern in ihrer Fantasie malen sie sich die Folgen ihrer Tat aus. Sebastian B. veröffentlichte dies vor seiner Tat 2006 in Emsdetten eindrucksvoll mit dem Satz: „Bevor ich gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich nie wieder ein Mensch vergisst.“ Die Schule hat er sich als Tatort ausgesucht, weil sie ihn zum Verlierer gemacht habe.
Das Deutsche Kinderhilfswerk wertet die aktuelle Tat in Winnenden aber auch als Symptom dafür, dass viele Menschen mit der Erziehung überfordert sind und die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern oft nicht funktioniert. „Wir dürfen die Schule nicht nur als Ort der Bildung verstehen, sie muss auch ein Ort der Erziehung und im Notfall auch der Hilfe sein“, so Gottberg. Dazu seien die Schulen aber weder ausgebildet noch ausgestattet. Gottberg begrüßte in diesem Zusammenhang den Trend zur Ganztagsschule. Sie sei besser in der Lage, Persönlichkeitsstörungen zu erkennen und mögliche Maßnahmen einzuleiten.
Eine Absage erteilte Gottberg an diejenigen, die allein in gewalthaltigen Computerspielen die Ursache für die Tat sehen. „Bevor Gewaltspiele zum Problem werden, muss einiges schief laufen. Sie sind vielleicht ein Teil des Problems, aber niemals der ausschließliche Grund.“ Vor allem wendet er sich gegen Vorverurteilungen. „Das bei einem männlichen Jugendlichen Gewaltspiele auf dem Computer zu finden sind, ist sehr wahrscheinlich. Daraus allein ein Motiv abzuleiten, ist absurd“, so Gottberg. „Dann hätten Millionen von Jugendlichen ein Motiv zum Amoklauf.“ Es sei aber durchaus sinnvoll, im Rahmen einer sorgfältigen Analyse die Bedeutung der Spiele für die Persönlichkeitsstörung der jugendlichen Amokläufer zu untersuchen und gegebenenfalls neu zu bewerten.
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