Doppelinterview

"Wir fangen die Kinder weiterhin auf“

Es herrscht immer noch Ausnahmezustand. Kitas und Schulen haben nur stark limitiert geöffnet und nach wie vor muss das meiste zuhause gelernt werden. Für Kinder aus Familien, die in Armut leben, ist der Stresslevel dabei extrem hoch. Über die Auswirkungen und daraus resultierenden politischen Forderungen haben wir mit dem Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes Holger Hofmann und der Leiterin des Kinderhauses Weimar Ramona Zander gesprochen.


Holger Hofmann ist Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes. Die Kinderrechteorganisation leistet Soforthilfe für benachteiligte Kindern in Deutschland und setzt sich auf politischer Ebene für in Not geratene Familien ein, wie beispielsweise mit der Forderung eines Rettungsschirms für Familien unterhalb der Armutsgrenze oder einem Expertengremium, das die Regierung für die Belange von Kindern und Jugendlichen im Rahmen weiterer Corona-Maßahmen sensibilisiert.

Ramona Zander leitet das Kinderhauses Weimar, eine Kontaktstelle des Deutschen Kinderhilfswerkes. Hier bekommen Kinder aus schwierigen Verhältnissen ein warmes Mittagessen, können in Ruhe Hausaufgaben machen und finden ein offenes Ohr für ihre Nöte. Während der verordneten Corona-Schließung stand das Kinderhaus-Team mit vielen Familien per Telefon in Kontakt, um Hilfe zu leisten.


Überall gibt es Lockerungen der Corona-Maßnahmen. Wie gehen die Kinder im Kinderhaus damit um?

Ramona Zander: Mit großer Erleichterung. Sie sind nicht mehr gezwungen, den Großteil des Tages in den meist beengten Wohnungen und mit oft überforderten Eltern zu verbringen. Doch ein normaler Alltag herrscht immer noch nicht vor. Wir fangen die Kinder weiterhin auf, zum Beispiel mit unserem „Fenster- und Haustüren-Theater“ oder der "Strickliesl-Challenge".

Welche Auswirkungen hat so ein monatelanger Lockdown auf Kinder und Jugendliche?

Holger Hofmann: Dramatisch ist die Zunahme von Vernachlässigung und häuslicher Gewalt gegenüber Kindern. Auch die Bildungsungleichheit ist noch weiter als ohnehin schon auseinandergedriftet. Beachtet werden muss aber auch der Bewegungsmangel. Wir beobachten aktuell im Rahmen unserer Mobilen Aktion Bewegung und Ernährung, – und das bestätigen auch verschiedene Studien – dass sich viele Kinder während der Schließungen viel zu wenig bewegt haben. Die Auswirkungen sind also enorm und sehr vielfältig. Es ist jetzt ganz wichtig, dass bei allen Maßnahmen, die kurzfristig und oder langfristig anstehen, die Perspektiven von Kindern und Jugendlichen in den Fokus genommen werden. Und Expertinnen und Experten, wie etwa Sozialarbeiter, Entwicklungspsychologinnen, Erzieher oder Kinderärztinnen, mit in die Planungen einbezogen werden.

Ramona Zander: In den Monaten, in denen die Schulen, das Kinderhaus und fast alles andere geschlossen war, hat das Kinderhaus Weimar die Kinder, so gut es aus der Distanz ging, unterstützt. Wir sind mit ihnen am Telefon die Aufgaben aus der Schule durchgegangen – was oftmals durch den Geschwisterlärm im Hintergrund nicht leicht war – haben für sie die Lernblätter ausgedruckt und in den Briefkasten geworfen, per WhatsApp zum Lernen motiviert sowie Elterngespräche geführt. So haben wir versucht, die Lernsituation der Kinder zu verbessern und ihre Nachteile gegenüber Kindern, die unter guten Bedingungen zuhause lernen können, abzumildern.

Holger Hofmann: Das war großartige Arbeit unter sehr schweren Bedingungen! Das Kinderhaus Weimar ist ja eine Kontaktstelle des Deutschen Kinderhilfswerkes und wir stehen in engem Austausch miteinander. Die Berichte von Ramona waren für uns alle ermutigende Lichtblicke.

Wie können denn benachteiligte Kinder den Bildungsanschluss zurückgewinnen?

Ramona Zander: Nach knapp drei Monaten zuhause Lernen sind die Kinder soweit abgehängt, dass es nur sehr schwer möglich ist, diese Lücken zu schließen. Lehrkräfte und Pädagogen können die Defizite nicht mit jedem Kind individuell aufholen. Und die Ungleichheit geht ja weiter. Da die Schulen nur an wenigen Tagen geöffnet sind, wird weiterhin zum Großteil zuhause gelernt. Viele Kinder lernen auch im Kinderhaus. Dank des "Digitalen Lernpakets" des Deutschen Kinderhilfswerkes konnten wir Laptops und weitere Materialien anschaffen. Das ist eine große Stütze für uns. Wir betreuen die Kinder bei ihren Aufgaben und führen sie an neue digitale Lernformen heran.

Holger Hofmann: Bereits vor Corona hat der Geldbeutel der Eltern darüber entschieden, wie gut das Kind gefördert wird und welche Chancen es im Leben hat. Das hat sich durch die monatelange Schließung von Bildungseinrichtungen immens verschärft. Dies ist ist ein schwerer Eingriff in die Grundrechte von Kindern und in ihre psycho-soziale Entwicklung. Hier braucht es jetzt einen Kurswechsel. Eine komplette Öffnung von Kitas und Schulen unter angemessenen Schutzvorgaben ist kinder- und familienpolitisch der logische nächste Schritt.

Reicht das?

Holger Hofmann: Nein, bei weitem nicht, deswegen muss die Politik dringend aktiv werden. Unser Vorschlag ist ein Sonderfonds für Kommunen, der Bildungsbegleitung für Kinder, die diese brauchen, finanziert. Die ohnehin schon ungleich verteilten Bildungschancen erst in den Blick zu nehmen, wenn die Krise ausgestanden ist, riskiert Kinder abzuhängen. Das gilt natürlich auch für Kinder in Kindertageseinrichtungen, die ja längst zu Bildungsinstitutionen geworden sind. Wir als Deutsches Kinderhilfswerk haben bereits Anfang April Soforthilfen angeboten: Verschiedene Nothilfepakete unterstützen das Lernen zuhause und bieten kleineren Kindern sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb der Kita. Wir kommen kaum hinterher, so groß ist die Nachfrage nach den Paketen.


Hintergrundinfo

Nothilfepakete des Deutschen Kinderhilfswerkes

Seit Beginn der Coronakrise leistet das Deutsche Kinderhilfswerk verschiedene Soforthilfen für Kinder und ihre Familien in Deutschland. Dazu gehören insbesondere Hilfsmaßnahmen zu den Themen Digitales Lernen, Individuelle Nachhilfe, Beschäftigungs- und Bildungsmaterialien für Kleinkinder und Schullernen in Flüchtlingsunterkünften.


Die Einschulungen stehen vor der Tür. Welche Herausforderungen bergen diese in Corona-Zeiten?

Ramona Zander: Dass mehr Eltern als sonst das Geld für eine Schulausstattung fehlt. Schulranzen, Sportbeutel, Brotbox, Federmäppchen, Hefte, Heftumschläge, Kunstmappe... Die Liste, was alles besorgt werden muss, ist lang! Und allein ein Schulranzen kostet zwischen 150 und 250 Euro. Eltern, die bereits vor der Coronakrise wenig Geld zur Verfügung hatten, haben jetzt meist durch Kurzarbeit oder sogar Verlust des Arbeitsplatzes noch weniger. Ich kenne viele, die wegen der Einschulung ihrer Kinder schlaflose Nächte haben.

Holger Hofmann: Seit vielen Jahren übergeben wir immer zum Schulanfang hin gefüllte Schulranzen an Kinder, deren Eltern nicht ausreichend Geld dafür haben. Auch dieses Jahr natürlich wieder - und wir haben die Auswirkungen der Krise dabei sehr deutlich gemerkt. Wir wurden und werden weiterhin förmlich überrannt mit Anfragen zu Schulausstattungen. Solch ein Ausmaß an Hilfegesuchen haben wir in all den Jahren noch nicht erlebt. Deswegen auch an dieser Stelle mein Appell an unsere Leserschaft zu spenden. Ohne finanzielle Unterstützung von außen ist es für uns sehr schwer, den Familien zu helfen.

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Die Situation in Deutschland zur Eindämmung des Coronavirus ändert sich ständig. Wir sind in engem Kontakt mit Kitas, Schulen, Familienzentren, Jugendämtern und natürlich mit Eltern, um aktuelle Defizite und dringende Bedürfnisse von Kinden immer im Blick zu haben. Dabei ist es wichtig, dass wir schnell reagieren.

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