30 Jahre Kinderrechte in Deutschland

"Wir halten den Druck aufrecht"

Vor 50 Jahren wurde das Deutsche Kinderhilfswerk gegründet, vor 30 Jahren, am 5. April 1992, hat Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Im Interview spricht Nina Ohlmeier, Leiterin unserer Abteilung Politische Kommunikation, darüber, welchen Einfluss die Ratifizierung auf unsere Entwicklung als Kinderrechtsorganisation hatte – und für welche kinderpolitischen Ziele das Deutsche Kinderhilfswerk heute kämpft.  

Was hat sich durch die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention für Kinder verbessert?  

Nina Ohlmeier: Der Blick auf Kinder und Jugendliche hat sich verändert! Grundgedanke der UN-Kinderrechtskonvention ist, dass Kinder Subjekte, also Trägerinnen und Träger eigenständiger Rechte, sind. Sie sind Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebenswelt. Dementsprechend müssen sie auch beteiligt und ernstgenommen werden. Leider hat die Corona-Krise deutlich gemacht, dass sich dieser Gedanke noch nicht grundlegend durchgesetzt hat und die Interessen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland noch nicht als ein vorrangiger Gesichtspunkt berücksichtigt werden – so wie es die UN-Kinderrechtskonvention eigentlich vorsieht.  

Nicht nur die Kinderrechte feiern in diesem Jahr Jubiläum – auch das Deutsche Kinderhilfswerk feiert sein 50-jähriges Bestehen. Welche Rolle hat die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention in der Geschichte der Organisation gespielt?  

Kinderrechtliche Grundideen haben im Deutschen Kinderhilfswerk schon vor der Ratifizierung eine Rolle gespielt. In den Anfangsjahren der Organisation ging es darum, die Spielplatzsituation, also das direkte Lebensumfeld von Kindern, in Deutschland zu verbessern und Städte nach den Bedürfnissen von Kindern zu gestalten. Mit der Ratifizierung sind die Kinderrechte zum Herzstück unserer Arbeit geworden. Außerdem ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, die eines der Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention ist, noch viel stärker ins Zentrum unserer Arbeit gerückt.  

In der Pandemie wurden Kinder und Jugendliche oft übergangen, statt beteiligt zu werden: zum Beispiel bei der Schließung von Freizeiteinrichtungen. Welche Folgen hat das?  

In den Untersuchungen, die uns vorliegen, sehen wir nach und nach, welche extremen Auswirkungen die Einschränkungen, die Kinder und Jugendliche erlebt haben, auf ihre Gesundheit und Psyche haben: dass sie ihre Freundinnen und Freunde nicht sehen, dass sie zeitweise  nicht mal auf den Spielplatz gehen konnten, dass wichtige Ansprechpersonen außerhalb der Familie gefehlt haben. Eine Studie der Uni Hildesheim* macht deutlich, dass bei Kindern und Jugendlichen Vertrauen in die Politik verloren gegangen ist, weil sie sich stark nach den Regeln gerichtet haben, aber ihre eigenen Bedürfnisse ausgeblendet worden sind.  

Was sind aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerks jetzt die dringendsten Baustellen, um die Kinderrechte, insbesondere auch das Recht auf Beteiligung, zu stärken?  

Anlässlich der Bundestagswahl haben wir im vergangenen Jahr zehn kinderrechtliche Kernforderungspapiere veröffentlicht, die unserer Meinung nach zentral für ein kindgerechtes Deutschland sind. Ein Thema verfolgen wir als Mitglied des Aktionsbündnisses Kinderrechte schon seit dessen Gründung 1994: die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Wenn die Kinderrechte endlich in unserer Verfassung aufgenommen würden, hätte das direkte Auswirkungen darauf, dass die Interessen von Kindern in der Rechtsprechung, in der Verwaltung und in der Politik stärker berücksichtigt werden.   

Die UN-Kinderrechtskonvention

Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen ist das wichtigste Menschenrechtsinstrument für Kinder. Sie wurde am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und ist am 2. September 1990 völkerrechtlich in Kraft getreten. Am 5. April 1992 hat Deutschland das Übereinkommen ratifiziert. Hier können Sie die Konvention im Wortlaut lesen.

Seit 30 Jahren gibt es die Kinderrechte in Deutschland – und noch immer sind sie nicht im Grundgesetz verankert, noch immer gibt es kein bundesweites Wahlrecht unter 18...  

Die Kinderrechte und die Interessen von Kindern und Jugendlichen haben noch nicht den Stellenwert in der Gesellschaft, den sie haben sollten. Als Deutsches Kinderhilfswerk setzen wir uns jeden Tag dafür ein, dass sich das ändert.  Und wir beobachten Fortschritte! Einige Bundesländer haben zum Beispiel das Wahlalter für den Landtag oder die kommunale Ebene auf 16 Jahre gesenkt. Nach langer Lobbyarbeit und viel Druck durch die Verbände haben die Ampelparteien die Idee einer Kindergrundsicherung, die das Existenzminimum von Kindern bedarfsgerecht absichern soll, im Koalitionsvertrag verankert. Es gibt immer wieder gute Beispiele, wie die Kinderrechte berücksichtigt werden – und trotzdem bleibt es ein langer Weg. Aber dafür sind wir da: um den Druck aufrechtzuhalten.  

Wie geht das: den Druck aufrechthalten?  

Zum einen bringen wir die Kinderrechte in Deutschland durch praktische Projekte voran: indem wir Beteiligungsprojekte fördern oder Kinder, deren Familien von Armut betroffen sind, über unseren Kindernothilfefonds unterstützen. Auf der anderen Seite tragen wir fachlich und strukturell zu ihrer Umsetzung bei. Wir entwickeln Kinderrechtematerialien für Kitas und Schulen, bilden Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus und machen politische Lobbyarbeit. Wir prangern Missstände an, bieten Lösungsvorschläge und überzeugen politische Entscheidungsträgerinnen und -träger von der Bedeutung der Kinderrechte.   

Auf welche Erfolge kann das Deutsche Kinderhilfswerk dabei zurückblicken?  

2018 hat der hessische Landtag beschlossen, die Kinderrechte in die hessische Landesverfassung aufzunehmen. Gemeinsam mit unseren Netzwerkpartnern konnten wir unsere Ideen erfolgreich in diesen Prozess einbringen – darauf sind wir stolz, weil die Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, die wir auch im Grundgesetz festgeschrieben sehen wollen, nun in Hessen verankert sind. Auch zur Novellierung des gesetzlichen Jugendmedienschutzes haben wir beigetragen. Aus unserer Sicht kann die Reform die Kinderrechte im digitalen Raum voranbringen. Eine Vorgabe ist zum Beispiel, dass die allgemeinen Geschäftsbedingungen von Angeboten im Internet in kindgerechter Sprache zur Verfügung stehen müssen.  

Kinderrechte ins Grundgesetz

Vor 30 Jahren hat Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Trotz dieser langen Zeitspanne steht die explizite Aufnahme der Kinderrechte in das deutsche Grundgesetz noch immer aus. Das Deutsche Kinderhilfswerk setzt sich mit vielen Partnern dafür ein, die Rechte von Kindern und ihre Beteiligung zu stärken. Lesen Sie hier mehr über unsere Arbeit zu Kinderrechten.

Wegen des Kriegs in der Ukraine kommen zurzeit viele geflüchtete Kinder nach Deutschland. Worauf kommt es jetzt an, um ihnen ihre Rechte bei uns zu garantieren?  

Eine große Herausforderung nach der ersten Phase des Ankommens in Deutschland wird sein, ihnen die Möglichkeit zu geben, einfach Kinder zu sein, das Erlebte zu verarbeiten und unbeschwerte Zeit zu verbringen. Dabei können wir als Deutsches Kinderhilfswerk unterstützen, indem wir Freizeit- und außerschulische Bildungsmaßnahmen finanzieren. Für eine gelingende Integration auf längere Sicht braucht es ein insgesamt gut ausgestattetes Bildungssystem, das den Kindern die Förderung zukommen lassen kann, die sie brauchen.  

Wie will das Deutsche Kinderhilfswerk die Kinderrechte im Jubiläumsjahr weiter voranbringen?  

Ein großes Projekt ist der Kinder- und Jugendgipfel, bei dem Kinder und Jugendliche politische Forderungen sowie Lösungsvorschläge entwickeln und diese rund um den Weltkindertag mit politischen Akteurinnen und Akteuren diskutieren können. Im Mai veröffentlichen wir unseren Kinderreport, für den wir Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene zur Generationengerechtigkeit und der Berücksichtigung von Kinderinteressen in Deutschland befragt haben. Außerdem veranstalten wir einen Festempfang, bei dem Kinder und Jugendliche auf die Vorsitzende des Familienausschusses des Deutschen Bundestages treffen und mit ihr über Zukunftsfragen wie Klima und Rente sprechen. 

Das Deutsche Kinderhilfswerk setzt sich in seinem Jubiläumsjahr für ein kindgerechtes Deutschland ein. Was ist Ihr persönlicher Wunsch für ein kindgerechtes Deutschland?  

Dass es gelingt zentrale Vorhaben, für die wir uns schon sehr lange einsetzen und die nun im Koalitionsvertrag stehen, umzusetzen: die Absenkung des Wahlalters, die Verankerung der Kinderrechte ins Grundgesetz und eine Kindergrundsicherung, die so ausgestaltet ist, dass sie Kinderarmut effektiv verhindert. 

*Mehr als 6.000 junge Menschen haben sich an der Online-Befragung der Uni Hildesheim “JUCO III” zu Jugend in Corona-Zeit beteiligt.

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