09.12.2015

„Internet ist gleich mit Essen“

Digitale Medien spielen für das Leben und Überleben von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen eine zentrale Rolle, insbesondere während der Flucht und nach der Aufnahme in Deutschland. Während ihrer Flucht dienen Mobiltelefone und soziale Netzwerke vor allem dazu, Fluchtwege zu organisieren, Kontakt mit der Familie aufzunehmen, Notrufe abzusetzen, und relevante Informationen über Fluchtwege durch Nachrichtenaustausch und Navigations-Apps zu erhalten. In Deutschland stehen für sie die Kommunikation mit der Familie, das Erlernen der deutschen Sprache, der Austausch mit Gleichaltrigen und die Information über Nachrichten im Vordergrund.

Das sind die zentralen Ergebnisse einer explorativen Studie der Universität Vechta und des Deutschen Kinderhilfswerkes über die Nutzung digitaler Medien durch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

„Insgesamt sind digitale Medien und Dienste für die soziale und bildungsbezogene Teilhabe der jungen Flüchtlinge immens wichtig und alternativlos. Gleichzeitig sind sie nur unter erschwerten Bedingungen verfügbar, da in den Inobhutnahmeeinrichtungen Internet und Computer wenn überhaupt nur sehr eingeschränkt für die jungen Flüchtlinge zugänglich sind – teils aus technischen, teils aus erzieherischen Gründen. Dabei eröffnet der Zugang zu den digitalen Medien in vielerlei Hinsicht integrierende Potenziale – über die Verbindung mit Peers aber auch mit Fachkräften, das Erlernen der Sprache, die Orientierung in der Aufnahmekultur und den neuen Orten. Digitale Medien haben sowohl eine verbindende Funktion, im Kontakthalten mit der Herkunftsfamilie, Verwandten an anderen Orten und Peers, als auch eine Brückenfunktion in die Aufnahmegesellschaft. Deshalb brauchen gerade unbegleitete Flüchtlingskinder einen besseren Zugang zu digitalen Medien als bisher“, sagt Prof. Dr. Nadia Kutscher, Professorin für Soziale Arbeit und Ethik an der Universität Vechta.

Die berichteten Nutzungsweisen der jungen Flüchtlinge verweisen darauf, dass die Nutzung von Diensten wie Facebook, Viber, Skype, YouTube oder Whatsapp sie in datenschutzmäßig prekäre Angebote führt, in denen in weitgehendem Maße personenbezogene Daten gesammelt werden. Auch die Nutzung kostenfreier WLAN-Hotspots ist mit der Angabe solcher Daten verbunden. In den Interviews zeigen sich teilweise äußerst geringe Kenntnisse datenschutzrelevanter Aspekte in der Mediennutzung, so dass die Frage, wie Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen sich zu diesen medienerzieherischen Fragen verhalten, relevant wird.

„Mit Blick auf die besondere Bedeutung digitaler Medien für unbegleitete Flüchtlingskinder wird deutlich, dass an zwei Stellschrauben gedreht werden sollte. Zum einen braucht es eine digitale Grundausstattung der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, und zum anderen sollte eine befähigende Medienbildung fest in den Aufnahmeeinrichtungen verankert werden. Dazu ist geschultes Personal notwendig, das die Medienbildung der Flüchtlingskinder risikobewusst begleitet. Kinder und Jugendliche dürfen bei der Kommunikation im Web 2.0 nicht alleine gelassen werden, und ihre informationelle Integrität besser geschützt werden. Das gilt für Kinder und Jugendliche in Deutschland insgesamt, und aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation ganz besonders für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“, betont Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes.

Die Studie stellt auch fest, dass sich parallel zur hohen Bedeutung digitaler Medien Widersprüche hinsichtlich der Verfügbarkeit von Internetverbindungen, der Datenschutzbedingungen, unter denen die Medien von den jungen Flüchtlingen und Fachkräften genutzt werden, sowie der kaum relevanten Nutzung von fachspezifischen Angeboten für Flüchtlinge über digitale Medien zeigen. In den Inobhutnahmeeinrichtungen ist in den wenigsten Fällen Internet für die Jugendlichen zugänglich, da entweder riskantes Mediennutzungsverhalten befürchtet wird, keine (Re-)Finanzierung in den Budgets der Einrichtungen vorgesehen ist oder restriktive Regeln zum Beispiel bei der Nutzung von WLAN nur innerhalb bestimmter Zeiten gelten. Dies führt einerseits dazu, dass die Kontaktmöglichkeiten zu den Familien eingeschränkt oder äußerst kostenintensiv für die Jugendlichen sind. Andererseits stehen den Jugendlichen in den Einrichtungen oftmals nicht ausreichend Computer für die Erledigung von Schulaufgaben zur Verfügung.

Im Kontrast zu den restriktiven Mediennormen in den Einrichtungen berichten die Jugendlichen aus vielen Einrichtungen darüber, dass die Fachkräfte mit ihnen über digitale Medien, insbesondere Whatsapp, kommunizieren. Dies ist insofern bemerkenswert als einerseits relativ streng mit Mediennutzung umgegangen wird, andererseits datenschutzrechtliche Aspekte mit der Nutzung von Whatsapp in institutionellen und fachlichen Zusammenhängen Standards des Klientendatenschutzes verletzen.

In den Interviews wurden die jungen Flüchtlinge auch gefragt, ob sie im Netz rund um Asylverfahren und Ankommen in Deutschland hilfreiche Informationen gefunden haben, die ihnen das Einleben in Deutschland erleichtern. Alle Befragten bekundeten Interesse an solchen Angeboten, berichteten aber fast ausschließlich von nichtfachlichen bzw. kommerziellen Diensten (Facebook als Nachrichtenbörse, Google als Übersetzungstool, Navigationshilfe und Suchmaschine etc.) und gaben auf Nachfrage an, dass ihnen speziell für sie entwickelte Informationsbroschüren unbekannt sind.

Im Mittelpunkt der explorativen Studie zur Nutzung digitaler Medien durch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge steht die Frage, wie diese vor, während und nach der Flucht digitale Medien nutzen, um u.a. Kontakte mit ihrer bisherigen Heimat aufrechtzuerhalten, neue Kontakte zu knüpfen, sich im Aufnahmeland zu orientieren und nach Unterstützungsmöglichkeiten zu suchen.

In 17 Interviews und einer Gruppendiskussion mit fünf jungen Flüchtlingen im Alter von 15 bis 19 Jahren, die derzeit in verschiedenen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe leben (Inobhutnahmeeinrichtung, Clearinghaus, betreutes Wohnen, stationäre Wohngruppe), wurden diese zu ihrer Nutzung digitaler Medien befragt. Die Erhebung fand in verschiedenen Städten in Deutschland statt.

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